Symptomentstehung

Wie bereits erwähnt (siehe „Erleben & Aufmerksamkeitsfokus) wird durch die Ausrichtung des Fokus unserer Aufmerksamkeit unser Erleben von Sekunde zu Sekunde neu erzeugt, und damit auch, wie wir uns selbst erleben. 

Nach Gunther Schmidt braucht es, um ein Problem erleben zu können, zwei Schritte. Erstens muss eine Diskrepanz / ein unerwünschter Unterschied zwischen aktuellem Ist-Zustand und gewünschtem Soll-Zustand erlebt werden. Zweitens müssen Lösungsversuche unternommen worden sein, um diesen ungewünschten Unterschied zwischen Ist und Soll aufzuheben, die jedoch weitgehend gescheitert sind. Für eine Veränderung dieser unerwünschten Situation ist ein erster hilfreicher und wichtiger Schritt der Aufbau einer Beobachter-Steuerposition.  Dies ist eine Position, von der aus die erlebende Person ihr Problem mit ausreichend Abstand betrachten kann, um einen guten Überblick und das Erleben von Handlungsfähigkeit zu haben.

Dafür ist das ganze Wissen der vorangegangenen Kapitel hilfreich. Von dieser Position aus wird in einem weiteren Schritt geforscht, wie in jeweils zieldienlicher Weise eine Assoziation mit dem Lösungserleben, sowie eine Dissoziation mit dem Problemerleben hergestellt werden können. Dabei ist es auch wichtig, auf eine optimale Abstimmung der Auswirkungen, die sich aus diesen möglichen Veränderungen in der inneren und äußeren Welt und deren Wechselwirkung ergeben können, zu achten. (Schmidt (2014))

Mechthild Reinhard stellt die Entstehung von Symptomen oft anhand ihrer sogenannten Systemischen Ursuppe dar, einem anschaulichen Modell zur Systemtheorie und darüber, wie lebende Systeme aus ihrer Sicht ticken. 

Dazu legt sie einen leuchtenden Fußball auf den Boden, der das Wofür darstellen soll. Denn lebende Systeme brauchen, ihrem Modell nach, ein sinnstiftendes faszinierendes Wofür, nach dem sie streben. Sonst könne das lebende System gar nicht ins Leben kommen und bleibe nicht am Leben. Um diesen Fußball herum legt sie ein Seil, um zu symbolisieren, dass jedes lebende System eine Grenze braucht, um eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen treffen zu können. Diese stellt sie sich halbdurchlässig vor und als nicht an sich bestehend, sondern abhängig vom Beobachter, der sie (aufgrund seiner eigenen Wahrgebung) zieht. Zudem würden zwei ganz einfache Prozesse permanent laufen in lebenden Systemen. Um diese zu symbolisieren setzt sie in den, durch das Seil entstandenen, Innenraum zwei Spielzeugfiguren. Eine macht gekonnt akrobatische Saltos und symbolisiert den ersten Prozess des „bereits Gelingenden“. Nach Gunther Schmidt könnte man sagen „Muster des Gelingens“. Alles was bereits gut läuft, erzeugt immer mehr desselben. Systemtheoretisch gesprochen entsteht Ordnung aus Ordnung. Die zweite Figur bewegt sich schleppend, hinkend fort. Sie symbolisiert den zweiten grundlegenden Prozess, der in jedem lebenden System permanent abläuft: etwas, das nicht gelingt, irgendwie stört, wo etwas noch nicht so in Ordnung ist. Auch dies läuft permanent in uns ab, systemtheoretisch gesprochen braucht jedes System etwas wie aus Unordnung Ordnung entsteht. Abschließend setzt sie noch eine balancierende Vogelfigur auf eine erhabene Position. Diese soll die Beobachterposition symbolisieren, die es braucht, um zu beobachten, was da abläuft. Zusätzlich stellt sie manchmal noch eine kleine Figur mit zwei Seiten dazu um das Dilemma, die Zwickmühle zu symbolisieren. Denn oft haben wir, bewusst oder unbewusst, eine Zwickmühle zwischen zwei oder mehreren sich widersprechenden Bedürfnissen/zwei oder mehreren gegenläufigen Wofürs. Ein häufiger Lösungsversuch ist es, zu versuchen, das „noch nicht Gelingende“/ Unerwünschte auszuschließen/ wegzumachen. Dies führt jedoch häufig dazu, dass von Innen und Außen noch mehr Aufmerksamkeit in kontraproduktiver Weise darauf gerichtet wird. Mechthild Reinhard geht davon aus (siehe auch Kapitel „Die innere Welt“), dass bei massiven Zwickmühlen in dem begrenzten, selbstorganisierten Raum eines lebenden Systems der Organismus anfängt, kreative Lösungen zu suchen. Häufig entstehe genau an der Grenze/Schnittstelle der beiden gegenläufigen Bedürfnisse ein Symptom.

Der erste wichtige Schritt, um aus dieser Zwickmühle oder Pattsituation wieder in eine gewünschtere Richtung zu kommen, liegt darin, eine bestimmte Art der Beobachtung und Haltung sich selbst gegenüber einzunehmen: Zu versuchen, wohlwollend und neugierig auf sich selbst und das bereits Gelingende und nicht Gelingende zu schauen. Zu hinterfragen, was für einen selbst denn gerade in welcher Form sinnstiftend wirkt, und welche Zwickmühlen/Konflikte zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen dabei vielleicht eine Rolle spielen könnten. Zu forschen, welche Bedingungen die Wahrscheinlichkeit für das gewünschte Erleben/Verhalten/Phänomen eher erhöhen und welche dieser vielleicht eher abträglich sind und was dann vielleicht auftaucht. Hypnosystemisch gesprochen geht es hier um das Utilisationsprinzip. Symptome zu betrachten als wertvolle Information und Rückmeldung über vielleicht noch nicht ausreichend berücksichtigte Bedürfnisse oder Bedingungen. Mechthild Reinhard greift hier oft auf die Metapher zurück, die auch Gunther Schmidt gerne verwendet: Das Symptom/Problem-Erleben als Warnleuchte des Signalsystems unseres Körpers und die Analogie zu einem roten Lämpchen, das beispielsweise einen Ölmangel beim Auto anzeigt. Wenn beim Auto ein wichtiges Warnlämpchen aufleuchtet, kümmern sich die allermeisten Menschen sofort um das dadurch aufgezeigte Problem. Denn das Risiko, das Auto könnte nicht mehr fahren und/oder eine teure Reparatur könnte durch das Übergehen verursacht werden, möchte so gut wie niemand eingehen. Wenn bei unserem Körper Warnleuchten auftauchen, wie Müdigkeit, Anspannung, Schmerzen, ist die Tendenz viel höher, diese zu übergehen. (Reinhard (2017))

Im Fall von Problem-Erleben und Symptomen besteht zumeist eine Grundhaltung von „Entweder - oder“ und die verschiedenen Wofürs stehen eher in einer Kampfbeziehung zueinander, anstatt nach einer stimmigen Form der Koexistenz, Balance und Kooperation zu streben. (Gross (2016), Schmidt (2014), Reinhard (2017))

 

Nach diesem Modell wird eher dazu eingeladen, die unerwünschten Phänomene aufzugreifen und die darin enthaltene Information zu nützen. Zu forschen, was es bei bleibender Co-Existenz der unterschiedlichen Bedürfnislagen/Seiten in uns braucht für ein jeweils stimmiges Sowohl-als-auch. (Reinhard (2017))

Quellenverzeichnis:

  • Bartl, R. (2016). Sucht, Angst, Zwang, Essstörungen. Hypnosystemische Perspektiven zum hilfreichen Umgang mit leidvollen Störungen und deren geschützten Anliegen. C-Seminar Klinische Hypnose; Hypno-Synstitut Wien.
  • Fereberger, B. (2020). Ressourcen zur Stabilisierung des Nervensystems in Zeiten der Krisen. Seminar ÖAP; Wien
  • Gross, M. (2016). Von A wie Angst bis Z wie Zweifel. C-Seminar Klinische Hypnose; Hypno-Synstitut Wien.
  • Herr, A. (2017). Einführung in die Hypnosystemik. Gastreferent im 1.Modul des Grundkurses zur Systemischen Pädagogik bei Mechthild Reinhard; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Kollar, A. (2018). Hypno meets Brainspotting 2. C-Seminar Klinische Hypnose. MEGA Wien
  • Maturana, H. & Varela F. (1984). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann
  • Porges, S. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Jungfermann Verlag
  • Porges, S. (2016). Connectedness as a biological imperative: Understanding trauma through the lens of the Polyvagal Theory. Vorkongress-Workshop- Reden reicht nicht!?; Heidelberg
  • Porges, S. (2019). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Liechtenau: G.P. Probst Verlag
  • Reinhard, M. (2017). Grundkurs Systemische Pädagogik und Beratung; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Reinhard, M. (2018). Aufbaukurs Systemische Pädagogik und Beratung; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Reinhard, M. (2020). Erweiterungskurs Systemische Pädagogik und Beratung inkl. Coaching & Supervision; Systelios-Akademie Siedelsbrunn
  • Schmidt, G. (2004). Liebesaffäre zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemische Konzepte für schwierige Kontexte. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Schmidt, G. (2011). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Schmidt, G. (2014). Curriculum Klinische Hypnose (B1-B8) der MEG. Milton-Erickson-Institut Heidelberg
  • Schmidt, G. (2017). Selbsthypnose und hypnosystemisches Selbstmanagement. C-Seminar Klinische Hypnose; Milton-Erickson-Institut Heidelberg