Zugehörigkeit vs Autonomie - Das menschliche Grundthema

Loyalität gegenüber mir wichtigen Bedürfnissen anderer

versus Loyalität gegenüber meinen ureigensten Bedürfnissen

Gerald Hüther (zitiert nach Gross, 2016), ein führender Hirnforscher, postuliert, dass der Mensch schon vor der Geburt zwei wesentliche Dinge lernt. Einerseits gut verbunden zu sein mit der eigenen Mutter (Bindungsbedürfnis) und andererseits über sich selbst hinauswachsen zu können, sich selbst verwirklichen zu können (Autonomiebedürfnis).

Nach Helm Stierlin (zitiert nach Schmidt, 2014), einer der Gründerfiguren der Systemischen Familientherapie in Heidelberg, ist dies das Grundthema, das jeden Menschen sein Leben lang begleitet. Er hat den Begriff der Bezogenen Individuation geprägt, der ausdrücken soll, dass es, abgestimmt auf den jeweiligen Kontext, immer um das Finden der stimmigen Balance zwischen „gut verbunden sein mit, für mich relevanten, anderen“ (Zugehörigkeits-Bedürfnis) und „gut bei mir selbst sein“ (Autonomie-Bedürfnis) geht.

Im Optimalfall besteht also ein, für den Moment als stimmig erlebtes, „Sowohl als auch“ der unterschiedlichen, für den aktuellen Kontext relevanten, (Grund-)Bedürfnissen einer Person, die sich durch unterschiedliche Teil-Ichs bemerkbar machen. (Schmidt (2014))

Auch in den Konzepten von Mechthild Reinhard spielt das Thema Zugehörigkeit versus Autonomie eine große Rolle. Sie greift oft auf die von Klaus Mücke (zitiert nach Mechthild Reinhard (2020)) geprägten Begriffe „Loyalität gegenüber mir wichtigen Bedürfnissen anderer/ der Umwelt“ und „Loyalität gegenüber meinen ureigensten Bedürfnissen“ zurück. In ihrem Modell der Grundbedürfnisse lebender Systeme hat sie das Grundthema Zugehörigkeit versus Autonomie um die in der Hypnosystemik hervorgehobene Unterscheidung zwischen bewusst und unwillkürlich erweitert. Sie spricht in diesem Modell, nicht zuletzt aufgrund ihres biografischen Hintergrunds (in der DDR aufgewachsen, viel soziale Kontrolle von außen erfahren, bereits als Kind immer wieder verhört worden), nicht nur von Anpassung, Loyalitätsbedürfnis, Veranwortung und Ordnung, sondern auch von Kontrolle.

Das Modell setzt sich aus 4 Quadranten zusammen. 

Die Unterschiedsbildung willkürlich, also bewusst gestaltbar (obere zwei Quadranten), versus unwillkürlich, entzieht sich unserer direkten Gestaltungsmöglichkeit, ist uns nicht verfügbar (untere zwei Quadranten). Sowie die Unterschiedsbildung Angepasstheit/Loyalität/Kontrolle (rechts-oben und rechts-unten) bei der es Einflüsse von Außen/der Äußeren Welt gibt versus Autonomie und ureigenste Selbstbestimmtheit (link-oben und links-unten) mit Einflüssen von Innen/der Inneren Welt.

Damit entsteht links oben das Grundbedürfnis der „willkürlich, also bewusst gestaltbaren Kontrolle“, womit Angepasstheit, Loyalität gegenüber anderen und der Umwelt sowie Verantwortung gemeint sind. Links unten im Bereich der unwillkürlichen Kontrolle steht das Bedürfnis nach Ordnung und Rhythmus, das Streben nach einem Gefühl von „Ich bin zugehörig und ich und mein Organismus sind dabei in Ordnung und schwingen im passenden Rhythmus“. Rechts oben findet sich der Bereich der willkürlichen, also bewusst gestaltbaren Autonomie und das Bedürfnis nach Entwicklung von eigenem Sinnerleben und Selbstbestimmtheit. Rechts unten entsteht der Bereich der unwillkürlichen Autonomie, wo es um das unwillkürliche Streben nach Lebendigkeit und Bewegung im Sinne von „Es will in mir ganz unwillkürlich“ geht. Dies ist auch der Bereich in/aus dem, im Denken von Mechthild Reinhard, im Sinne der Autopoiese lebende Systeme ihre Energie beziehen. (Der Begriff der Autopoiese geht auf Maturana und Varela (1984) zurück und bezeichnet den Prozess der Selbsterzeugung, Selbstorganisation und Selbstregulation lebender Systeme.) Die Bereiche der willkürlichen Kontrolle und Loyalität (links oben) und unwillkürlichen Autonomie und Bewegung (rechts unten) umgibt sie mit einer halbdurchlässigen Grenze, um auszudrücken, dass hier Bezogenheit gewünscht ist. Im bewusst gestaltbaren Bereich der willkürlichen Kontrolle und Anpassung Bezogenheit auf die äußere soziale Welt. Im Bereich der unwillkürlichen Autonomie und Bewegung im Sinne von Verbundenheit mit dem Leben und der Lebendigkeit an sich. Bei den anderen beiden Bereichen, der unwillkürlichen Kontrolle, wo es um unwillkürliche Ordnungen und Rhythmen im Zusammenhang mit dem Zugehörigkeitsbedürfnis in uns geht (links unten) und der willkürliche Autonomie (rechts oben), wo es um die eigene Sinnentwicklung und Selbstbestimmtheit geht, plädiert sie jedoch für eine klare Grenzbildung nach außen, damit nichts (weiteres) reinkommen kann, was diese Bereiche ungewünscht verstören könnte. Sie setzt dieses Modell auch für Selbstcoaching-Prozesse ein.

Ziel wäre, ein Gefühl für die aktuellen Zustände und Bedürfnislagen in den verschiedenen Bereichen im Auge zu behalten und im Bezug auf diese schwingungsfähig zu bleiben. Sich gut einzuschwingen, um eine, für den jeweiligen Moment und die jeweilige Situation, stimmige Balance zwischen den verschiedenen Bereichen finden zu können. Dies deutet sie durch die verbindenden geschwungenen Bahnen an. (Reinhard (2017))

Quellenverzeichnis:

  • Bartl, R. (2016). Sucht, Angst, Zwang, Essstörungen. Hypnosystemische Perspektiven zum hilfreichen Umgang mit leidvollen Störungen und deren geschützten Anliegen. C-Seminar Klinische Hypnose; Hypno-Synstitut Wien.
  • Fereberger, B. (2020). Ressourcen zur Stabilisierung des Nervensystems in Zeiten der Krisen. Seminar ÖAP; Wien
  • Gross, M. (2016). Von A wie Angst bis Z wie Zweifel. C-Seminar Klinische Hypnose; Hypno-Synstitut Wien.
  • Herr, A. (2017). Einführung in die Hypnosystemik. Gastreferent im 1.Modul des Grundkurses zur Systemischen Pädagogik bei Mechthild Reinhard; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Kollar, A. (2018). Hypno meets Brainspotting 2. C-Seminar Klinische Hypnose. MEGA Wien
  • Maturana, H. & Varela F. (1984). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann
  • Porges, S. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Jungfermann Verlag
  • Porges, S. (2016). Connectedness as a biological imperative: Understanding trauma through the lens of the Polyvagal Theory. Vorkongress-Workshop- Reden reicht nicht!?; Heidelberg
  • Porges, S. (2019). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Liechtenau: G.P. Probst Verlag
  • Reinhard, M. (2017). Grundkurs Systemische Pädagogik und Beratung; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Reinhard, M. (2018). Aufbaukurs Systemische Pädagogik und Beratung; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Reinhard, M. (2020). Erweiterungskurs Systemische Pädagogik und Beratung inkl. Coaching & Supervision; Systelios-Akademie Siedelsbrunn
  • Schmidt, G. (2004). Liebesaffäre zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemische Konzepte für schwierige Kontexte. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Schmidt, G. (2011). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Schmidt, G. (2014). Curriculum Klinische Hypnose (B1-B8) der MEG. Milton-Erickson-Institut Heidelberg
  • Schmidt, G. (2017). Selbsthypnose und hypnosystemisches Selbstmanagement. C-Seminar Klinische Hypnose; Milton-Erickson-Institut Heidelberg