Jeder Mensch hat viele Seiten in sich

Je nach Kontext und damit verbundenen Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnissen von uns selbst oder der sozialen Umwelt, werden unterschiedliche Erlebnisnetzwerke aktiviert, wodurch andere Teil-Persönlichkeiten oder Seiten von uns im Vordergrund stehen und, wenn man so möchte, unser Steuer übernehmen. Gunther Schmidt beharrt daher immer wieder bewusst darauf, dass wir, so betrachtet, alle multiple Persönlichkeiten mit vielen Teil-Ichs oder Seiten sind. Seiten oder Teil-Ichs können nach dem hypnosystemischen Konzept als Botschafter von Bedürfnissen betrachtet werden. Im Idealfall kooperieren die Seiten miteinander wie die einzelnen Musiker eines Orchesters, tun sie es nicht, führt dies meist zu aufreibendem Problemerleben und Symptomen.

Gunther Schmidt hat das Modell des Ich-Containers vorgeschlagen, um zu veranschaulichen, wie unsere verschiedenen, auf Erfahrungen beruhenden Seiten und deren Wechselwirkungen unser Erleben formen. In diesem Ich-Container, den wir als uns selbst erleben, befinden sich, aufgrund von Wechselwirkungen der inneren und äußeren Welt, zu jedem Augenblick eines oder mehrere von Erlebnisnetzwerken, die wir als Teil-Ichs oder Seiten bezeichnen können. Zumeist sind wir mit einem der Teil-Ichs, die sich gerade im Ich-Container befinden, so stark assoziiert, dass wir das Gefühl haben, das sind wir. Wir haben Tausende dieser Erlebnisnetzwerke, die sprungbereit darauf warten, aktiviert zu werden und die alle miteinander und mit der äußeren Welt in Wechselwirkung stehen. Die Erlebnisnetzwerke setzen sich, wie bereits erwähnt, zusammen aus bewussten, unwillkürlichen und unbewussten Elementen. Die Diskrepanz zwischen dem bewussten „Ich“ und dem unwillkürlichen „Es“ im Modell von Bartl und der modifizierten Form von Gross (siehe Abschnitt „die Innere Welt“) kann auch verstanden werden als Diskrepanz zwischen zwei Teil-Persönlichkeiten oder Seiten einer Person. Wobei das bewusste „Ich“ der Seite entspricht, mit der die Person gerade in dem Moment am meisten assoziiert ist, man könnte auch sagen, mit der sie sich gerade verwechselt. Das „Es“ stünde dann für eine weitere, sich gerade im Ich-Container befindende Seite, die für bislang eventuell nicht ausreichend berücksichtigte, sich für die aktuelle Situation jedoch ebenfalls relevante Bedürfnisse steht, die sich ganz unwillkürlich, und oft vehement, melden. Ebenso kann es sich bei den uns wichtigen Bedürfnissen des sozialen Systems in uns und den ureigensten Bedürfnissen unseres biologischen Systems im BioPsychoSozialen Konstrukt von Mechthild Reinhard verhalten (siehe Abschnitt „die Innere Welt“). 

Mechthild Reinhard baut zur Darstellung der inneren Welt mit Fokus auf deren viele Teilpersönlichkeiten/Seiten/Erlebnis-netzwerken auch oft auf das Eisberg-Modell auf. (Das Eisberg-Modell soll ursprünglich von Freud stammen. Die Eisbergmetapher soll veranschaulichen, dass  nur ein kleiner Teil erkennbar ist, während ein deutlich umfangreicherer Teil unter der Wasseroberfläche verborgen bleibt.) 

Sie beschreibt damit, dass nur etwa 1/7 unserer inneren Prozesse von uns gestaltbar sind, bewusster sind, sodass wir das Gefühl haben, wir können Einfluss darauf nehmen. Die große Mehrheit, 6/7 unserer inneren Prozesse jedoch unwillkürlich in uns herumwabern und ablaufen und auch Auswirkungen auf unseren Organismus haben, jedoch nicht direkt von uns gestaltbar sind. Je nach Situation und Einflüssen von außen und damit verbunden Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnissen werden andere Seiten oder Erlebnisnetzwerke in uns aufgerufen. Je nach Kontext und was auf uns einströmt werden wir also zu jemand anderem. Dies kann uns auch gänzlich oder teilweise bewusst werden, es kann aber auch sein, dass es unwillkürlich abläuft. Soweit ist das Modell von Mechthild Reinhard, die seit vielen Jahren eng mit Gunther Schmidt zusammenarbeitet und seine Konzepte übernommen hat, seinem Modell des Ich-Containers sehr ähnlich. Sie geht jedoch zusätzlich davon aus, dass es neben dem kleinen Teilbereich der gestaltbaren Prozesse und dem großen Teilbereich der unwillkürlich ablaufenden Prozesse in uns auch - noch tiefer, wenn man so möchte - einen heilen Kern gibt. Sie meint, dass könne sie nicht beweisen, das sei nicht überprüfbar, es sei viel mehr ein Glaubensakt, aber sie gehe davon aus, dass jeder Mensch diesen heilen Kern besitze. Ein Bereich, der, egal was einem Menschen vielleicht widerfährt, nie beschädigt, beschmutzt oder zerstört werden könne.

Quellenverzeichnis:

  • Bartl, R. (2016). Sucht, Angst, Zwang, Essstörungen. Hypnosystemische Perspektiven zum hilfreichen Umgang mit leidvollen Störungen und deren geschützten Anliegen. C-Seminar Klinische Hypnose; Hypno-Synstitut Wien.
  • Fereberger, B. (2020). Ressourcen zur Stabilisierung des Nervensystems in Zeiten der Krisen. Seminar ÖAP; Wien
  • Gross, M. (2016). Von A wie Angst bis Z wie Zweifel. C-Seminar Klinische Hypnose; Hypno-Synstitut Wien.
  • Herr, A. (2017). Einführung in die Hypnosystemik. Gastreferent im 1.Modul des Grundkurses zur Systemischen Pädagogik bei Mechthild Reinhard; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Kollar, A. (2018). Hypno meets Brainspotting 2. C-Seminar Klinische Hypnose. MEGA Wien
  • Maturana, H. & Varela F. (1984). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann
  • Porges, S. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Jungfermann Verlag
  • Porges, S. (2016). Connectedness as a biological imperative: Understanding trauma through the lens of the Polyvagal Theory. Vorkongress-Workshop- Reden reicht nicht!?; Heidelberg
  • Porges, S. (2019). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Liechtenau: G.P. Probst Verlag
  • Reinhard, M. (2017). Grundkurs Systemische Pädagogik und Beratung; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Reinhard, M. (2018). Aufbaukurs Systemische Pädagogik und Beratung; Helm-Stierlin-Institut Heidelberg
  • Reinhard, M. (2020). Erweiterungskurs Systemische Pädagogik und Beratung inkl. Coaching & Supervision; Systelios-Akademie Siedelsbrunn
  • Schmidt, G. (2004). Liebesaffäre zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemische Konzepte für schwierige Kontexte. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Schmidt, G. (2011). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Schmidt, G. (2014). Curriculum Klinische Hypnose (B1-B8) der MEG. Milton-Erickson-Institut Heidelberg
  • Schmidt, G. (2017). Selbsthypnose und hypnosystemisches Selbstmanagement. C-Seminar Klinische Hypnose; Milton-Erickson-Institut Heidelberg